Berufliche Bildung - weiterentwickeln, gleichwertig behandeln,

attraktiver machen!

(Beschluss des Landeshauptausschusses am 8. April 1995 in Schwäbisch Gmünd)

Berufliche Bildung dient individuellen Interessen gleichermaßen wie wirtschaftlichen und gesellschaftlichen. Sie ist zentraler Bestandteil der persönlichen Entwicklung und Lebensgestaltung. Und sie ist einer der wichtigsten Faktoren für die Sicherung und Weiterentwicklung des Wirtschaftsstandorts Baden-Württemberg.

Das duale System der beruflichen Bildung hat sich bewährt. Es muss sich allerdings veränderten beruflichen und gesellschaftlichen Bedingungen anpassen und entsprechend weiterentwickelt werden. Ausdrückliches Ziel hierbei muss sein, die Attraktivität beruflicher Bildungsgänge zu steigern, die Gleichwertigkeit von beruflicher und allgemeiner Bildung tatsächlich zu realisieren.

Die Wirtschaft wird auf breit und gut qualifizierte Fachkräfte mehr denn je angewiesen sein. "Lean production" ist mit "small qualification" nicht zu machen. Die Großbetriebe dürfen ihren Anspruch und ihre Aufgabe, die Berufsausbildung im Rahmen des dualen Systems durchzuführen, nicht hinter kurzfristiges und kurzsichtiges Kostenkalkül zurückstellen. Sie müssen wieder vermehrt Ausbildungsplätze bereitstellen.

Der Weg der beruflichen Bildung ist nur dann attraktiv, wenn er realistische Zugangschancen zu guten Berufspositionen eröffnet.

Gleichwertigkeit realisieren

1. Gleichwertigkeit von beruflicher und allgemeiner Bildung darf nicht länger Lippenbekenntnis bleiben.

Die Berufs- und Lebenschancen, die durch die Wahl eines bestimmten Bildungs- und Ausbildungsgangs langfristig eröffnet werden, sind der letztlich entscheidende Vergleichsmaßstab. Erworbene Bildungsberechtigungen und Erstqualifikation dürfen über Einkommenschancen und Karrieremöglichkeiten nicht abschließend entscheiden. Wirtschaft und öffentlicher Dienst müssen ihre Personalpolitik in diesem Sinn ändern. Vor allem im öffentlichen Dienst sind mehr Durchlässigkeit und Orientierung am Leistungsprinzip anstatt an der Erstqualifikation erforderlich. Auch Verwaltungen muss die Möglichkeit eingeräumt werden, über leistungsbezogene Zuschläge aus eigenem Budget selbständig zu entscheiden. Die laufbahnrechtlichen Voraussetzungen müssen hierfür geschaffen werden. Darüber hinaus müssen verstärkt Fortbildungsmöglichkeiten angeboten werden, die beruflich Qualifizierten den Einstieg in Führungsebenen öffnen, die traditionell von Hochschulabsolventen eingenommen werden.

2. Gleichwertigkeit von beruflicher und allgemeiner Bildung muss sich im

Bereich staatlicher Förderung widerspiegeln.

Der Staat hat sich aus der Förderung der Teilnahme an Kursen der Aufstiegsfortbildung (Meisterkurse, Techniker- und Fachwirtfortbildung) zurückgezogen. Die Hochschulausbildung ist demgegenüber gebührenfrei; bei Bedürftigkeit stehen BAFöG-Fördermittel zur Verfügung. Der Gleichwertigkeitsgrundsatz wird hierdurch verletzt. Darüber hinaus ist die Nicht-Förderung des Bereichs der Aufstiegsfortbildung auch arbeitsmarktpolitisch kontraproduktiv: Teilnehmer an Meisterkursen sind potentielle Existenzgründer; durch ein im Bereich des Handwerks neu gegründetes Unternehmen werden im Durchschnitt fünf neue Arbeitsplätze geschaffen. Die Förderung der Teilnahme an Meisterkursen sowie an Kursen für gleichwertige Fortbildungsprüfungen (sog. "Meister-BAFöG"), die auf Drängen der F.D.P. in den Bonner Koalitionsvereinbarungen verankert worden ist, muss so rasch wie möglich realisiert werden.

3. Gleichwertigkeit von beruflicher und allgemeiner Bildung verlangt verbesserte personelle und räumliche Ausstattung der beruflichen Schulen.

Unterrichtsausfall, zu große Klassen und Kurse, Fehlen geeigneter Räume und Arbeitsplätze dürfen nicht länger zur Tagesordnung gehören. Die beruflichen Schulen müssen durch verbesserte Unterrichtsversorgung, ergänzende sozialpädagogische Inhalte in der Lehrerausbildung sowie eine praxisnahe Lehrerfortbildung für die Wahrnehmung ihres Bildungsauftrags unter veränderten Bedingungen gestärkt werden. Dies kann nicht allein durch Bereitstellung zusätzlicher Ressourcen geschehen, sondern verlangt auch Strukturveränderungen im Bereich der beruflichen Bildung. Die Gewinnung eines weiterhin hoch qualifizierten und motivierten Lehrpersonals setzt eine Steigerung der Attraktivität des beruflichen Schuldienstes durch verbesserte Beförderungsmöglichkeiten voraus.

4. Der Gleichwertigkeit von beruflicher und allgemeiner Bildung kann durch Möglichkeiten der Doppelqualifikation und die Entwicklung dualer Ausbildungsmodelle im tertiären Bereich in besonderer Weise Rechnung getragen werden.

Die Entwicklung doppeltqualifizierender Bildungsgänge, die den gleichzeitigen

Erwerb eines gymnasialen und eines ersten beruflichen Abschlusses ermöglichen, ist im Sinn einer Alternative zum klassischen, aber auch zum beruflichen Gymnasium zu prüfen. Eine solche Doppelqualifikation setzt eine gegenüber der gymnasialen Schulzeit verlängerte Bildungs- und Ausbildungszeit voraus, könnte andererseits gegenüber dem sukzessiven Durchlaufen von allgemeinschulischer und beruflicher Bildung mit kürzerer Dauer angeboten werden und hierdurch

attraktiv sein. Auch an den "klassischen" Gymnasien sind Berufspraktika in der Oberstufe einzuführen, die es den Schülern ermöglichen, Einblicke in verschiedene Berufsfelder vermittelt zu bekommen."

Die baden-württembergischen Berufsakademien haben sich als duales Ausbildungsmodell grundsätzlich bewährt und sollten auf weitere Berufsfelder ausgedehnt werden. Sofern es weiterhin nicht gelingt, die bundesweite Anerkennung der Berufsakademie-Abschlüsse herbeizuführen, müssen die Berufsakademien zu einer eigenständigen Einrichtung im tertiären Bereich weiterentwickelt werden.

Zugleich ist den Empfehlungen und Vorschlägen von Wissenschaftsrat, Fachhochschulrektorenkonferenz und Deutschem Industrie- und Handelstag Rechnung zu tragen, duale Ausbildungsmodelle im tertiären Bereich voranzutreiben.

5. Die Förderung von begabten Auszubildenden und jungen Berufstätigen muss den gleichen Stellenwert erhalten wie die Förderung begabter Studierender.

Den zahlreichen Instrumenten zur Begabtenförderung im Bereich der Hochschulen ist eine "Begabtenförderung Berufliche Bildung" an die Seite zu stellen. In und nach der beruflichen Ausbildungsphase sollen begabten jungen Menschen durch dieses Begabungswerk Weiterbildungsmöglichkeiten - gerade auch im Ausland - angeboten werden. Durch diesen Beitrag zur realen Gleichwertigkeit von beruflicher und allgemeiner Bildung können nicht zuletzt zusätzliche Anreize für die Wahl eines beruflichen Bildungsgangs geschaffen werden. Erfahrenen und befähigten Berufstätigen, die im Beruf auch studienbezogene Fähigkeiten erworden und entwickelt haben, ist der fachbezogene Zugang zur Hochschule zu eröffnen. Die Bewerberinnen und Bewerber sind auf Aufnahme des Studiums und während der ersten Semester intensiv zu beraten.

Neue Aufgaben

6. Die berufliche Bildung muss sich stärker auch denen öffnen, die bislang ohne Ausbildung und Abschluss bleiben; sie muss bewusst auch lernbeeinträchtigten und sozial benachteiligten Jugendlichen die Möglichkeit der beruflichen Qualifizierung bieten (Fachwerker).

Der Bedarf an ungelernten Arbeitskräften wird weiter sinken. Derzeit sind 50 % der arbeitslosen Jugendlichen ohne abgeschlossene Berufsausbildung. 12 % der Auszubildenden scheitern in der Abschlussprüfung; annähernd ein Viertel der

Ausbildungsverträge wird aufgelöst.

Die berufliche Bildung muss hierauf reagieren - im Interesse dieser Jugendlichen, aber auch im wirtschaftlichen Interesse. Durch gestufte Ausbildungsgänge, die nach dem "Baukastenprinzip" auch die weitere Aufstockung ermöglichen, muss auch lernbeeinträchtigten und sozial benachteiligten Jugendlichen der Erwerb

eines ersten beruflichen Bildungsabschlusses und damit der Einstieg in das

Berufsleben ermöglicht werden. Auch schon der praktische Abschluss muss

berufsqualifizierend sein.

Berufs- und allgemeinbildende Schule müssen verstärkt miteinander kooperieren, um die Nutzung ihrer spezifischen Bildungspotentiale durch wechselseitige

Verzahnung zu optimieren.

7. Das duale Ausbildungssystem muss durch differenzierte und zusätzliche Angebote gezielt auch auf Abiturienten zugehen.

Die Bildungs- und Ausbildungsanforderungen an die Fachkräfte in Wirtschaft und öffentlichem Dienst werden weiter steigen. Das zunehmende Interesse von Abiturienten an beruflichen Bildungsgängen ist daher zu begrüßen; ihm ist insbesondere dadurch Rechnung zu tragen, dass Abiturienten innerhalb des dualen Systems neben den Berufsakademien vermehrt attraktive Alternativen zum Hochschulstudium angeboten werden, z.B. in Form dreijähriger dualer Berufskollegs oder durch das Angebot anspruchsvoller Zusatzqualifikation (Beispiel: Zusatzqualifikation "Betriebsassistent/in des Handwerks" mit den Schwerpunkten Fremdsprachen, Recht, Management- und Planungsmethoden, Datenverarbeitung).

8. Ausländer- und Aussiedlerkinder müssen in die schulischen und beruflichen Bildungsgänge verstärkt einbezogen werden.

Zu viele jugendliche Ausländer und Aussiedler erreichen in Baden-Württemberg derzeit keinen Ausbildungsabschluss. Noch immer sind hierfür häufig sprachliche Defizite die Ursache. Sprachliche Stützkurse, gezielte Ansprache und verbesserte sozialpädagogische Betreuung dürfen nicht erst in der Berufsschule, sondern müssen bereits in Grund- und Hauptschule ansetzen. Es geht um die Lebenschancen dieser Jugendlichen und um ihre Integration, zugleich aber auch

darum, dass ihre Begabungen und Fähigkeiten in Wirtschaft und Gesellschaft

dringend benötigt werden.

9. Die berufliche Bildung muss fit gemacht werden für Europa.

Der Binnenmarkt der Europäischen Union bietet neue Chancen, stellt aber auch gerade an die berufliche Bildung neue Anforderungen. Fachkräfte in einer Vielzahl von Betrieben und Berufen benötigen Fremdsprachenkenntnisse sowie Kenntnisse über Wirtschaft und Gesellschaft europäischer Partnerländer. Fachbezogene Fremdsprachenvermittlung muss daher zu einem festen Bestandteil der beruflichen Bildung werden. Der grenzübergreifende Austausch von Auszubildenden, jungen Arbeitnehmern und Berufsbildungsexperten muss intensiviert werden. Die Fördermöglichkeiten des Aktionsprogramms "LEONARDO da Vinci" des Rats der Europäischen Union sind auszuschöpfen.

10. Die Chancengleichheit von Frauen und Männern im beruflichen Leben muss durch Intensivierung und Ausweitung der Angebote für eine qualifizierte Berufsausbildung bewusst gefördert werden.

Eine ausgeglichenere Beteiligung von Frauen und Männern an allen Ausbildungsberufen ist eine der entscheidenden Voraussetzungen für die Herstellung wirklicher Chancengleichheit und Gleichstellung von Frauen und Männern in Berufsleben und Gesellschaft. Neben der Schule muss die berufliche Bildung ihren spezifischen Beitrag zur Überwindung einengender Geschlechterrollen leisten. Insbesondere muss das Interesse junger Frauen für Berufe im gewerblich-technischen Bereich verstärkt gefördert werden. Unabhängig davon ist durch flexible Zeiten und Organisationsformen in der Fort- und Weiterbildung dem Erfordernis der Vereinbarkeit von beruflicher Bildung und Familie Rechnung zu tragen.